Alt werden kann so unterschiedlich sein: Mein Vater gibt mit 89 noch Konzerte, meine Mutter litt lange an Parkinson und Demenz und lebte zuletzt in einer Pflege-WG. Individuelle Lebenslagen erfordern unterschiedliche Wohnformen im Alter. Wichtigstes Leitmotiv ist die Selbstbestimmung. Die meisten Menschen sehen diese zuhause gewahrt. Das Leben in der eigenen Wohnung ist aber im Pflegefall oft nicht mehr finanzierbar, Pflegeheime sind jedoch nur selten in der Lage, den Menschen Privatheit und Selbstbestimmung zu sichern.
Eine Alternative zum Heim ist die ambulant betreute Pflegewohngemeinschaft mit der Präsenz eines Pflegedienstes rund um die Uhr. Die Pflege-WG setzt eigentlich voraus, dass die Nutzer/innen beziehungsweise deren Vertretung durch Angehörige oder rechtliche Betreuer/innen ihre aktive Rolle einnehmen und sich mit einem Pflegedienst und dem Vermieter die Verantwortung teilen. Die Verträge für Wohnen und Pflege müssen getrennt, die Wahl des Pflegedienstes frei sein. Soweit zur Theorie.
In Berlin hat sich mittlerweile ein Markt mit rund 500 Pflege-WGs entwickelt, begünstigt durch Tagespauschalen für Pflege und Betreuung von rund 100 Euro pro Tag. Allerdings werden diese Wohngemeinschaften in der Regel nicht mehr durch Angehörige, sondern durch Pflegedienste ins Leben gerufen. Das hat Folgen: Obwohl formal nur Gast, dominiert der Pflegedienst oft den Alltag. Wird am Personal gespart, leidet darunter die Selbstbestimmung der Mitglieder der Wohngemeinschaft. Nutzer/innen und Angehörige müssen in ihrer Rolle gestärkt werden. Am besten, sie bilden eine Gemeinschaft, die die Aufträge vergibt – mit schriftlich festgelegten Regeln zum Beispiel darüber, wie Entscheidungen über Neueinzüge getroffen werden oder wofür das Geld aus der Gemeinschaftskasse ausgegeben wird.
Sind keine Angehörigen vorhanden, ist es umso wichtiger, Menschen aus der Nachbarschaft, über Ehrenamt oder niedrigschwellige Angebote in die WG einzubeziehen. Wurde das Modell der Pflege-WG anfangs vor allem für Menschen mit Demenz entwickelt, weitet sich der "Markt" auch für andere Pflegefälle aus. An sich begrüßenswert, aber es muss ein Konzept geben. Wohngemeinschaften sind keine Selbstläufer. Das Leben in der Wahlfamilie ist konfliktbeladen und braucht deswegen Begleitung und Unterstützung. Das können Patient/innen oder Moderator/innen sein. Hierfür bedarf es öffentlicher Gelder und einer Forschung, die diese Projekte begleitet; WG-Fachstellen sollten beratend zur Verfügung stehen. Dies wird umso wichtiger, je mehr Alten-WGs mit heute noch aktiven Bewohnern und Bewohnerinnen sich nach und nach auch zu Pflege-WGs entwickeln werden.
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Wohin mit Vater und Mutter? Drei Autoren, drei Standpunkte: Wie die Pflege von Angehörigen zum Wohle aller in Zukunft gestaltet werden kann. Neben Thomas Birk erläutern Hannelore Buls ("Mehr professionelle Pflege bitte!") und Christa Wichterich ("Schluss mit der Geringschätzung") ihre Standpunkte.
Böll.Thema 2/2013
Wie frei bin ich? Schwerpunkt: Lebensentwürfe in Bewegung
Unser aktuelles Magazin liefert Analysen, Denkanstöße und praktische Vorschläge, wie für die eigenständige Existenzsicherung politische und gesetzliche Weichen gestellt werden können. Mit Beiträgen von Barbara Unmüßig & Susanne Diehr, Uta Meier-Gräwe, Heide Oestreich, Astrid Rothe-Beinlich, Götz Aly, Julia Friedrichs, Chris Köver, Ulrike Baureithel u.v.a.